Selbstverteidigung, warum wollt ihr das lernen? Darauf wussten wir Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die sich zu Kursbeginn um Trainer Enzo versammelt hatten, sofort Antworten: "Die Welt ist schlimmer, aggressiver geworden", "Man hört so viel in den Nachrichten", "Gerade war doch hier ein Vorfall in der Nähe", "Ich fühle mich draußen oft unbehaglich" oder gar "Ich war schon einmal in solch einer Situation". Auch wenn die Statistiken belegen, dass die Zahl an Gewalttaten nicht außergewöhnlich gestiegen ist, sind wir durch die neuen Medien, insbesondere durch die täglichen Nachrichten auf unseren Handys, näher am Geschehen als je zuvor. Das ängstigt uns, zumal die gleichen Statistiken und Umfragen ebenso belegen, dass die generelle Gewaltbereitschaft gestiegen und die Hemmschwelle zur Ausübung schwerer Gewalt gesunken ist. Früher hörten Angreifer oftmals auf, wenn ihr Opfer am Boden lag, heute wird noch mehrmals auf das auf dem Boden liegende Opfer nachgetreten, oft sogar zum Kopf.
"Daher müsst ihr lernen euch zu verteidigen, da müsst ihr ran", so lautete Enzos Startschuss. Gleich zu Beginn gab er sein Ziel bekannt, dem Kurs möglichst einfach zu lernende Techniken zur Selbstverteidigung nahebringen zu wollen, die aber gleichzeitig ein hohes Maß an Effektivität bieten, "cool aussehende Moves sind nur fürs Kino oder YouTube". Aber auch die Theorie soll im Laufe des Kurses nicht zu kurz kommen: "Was dürft ihr in welcher Situation, was gilt als angemessene Reaktion?", "Wo beginnt Selbstverteidigung?".
"Wie reagiert ihr, wenn Jemand auf euch zu kommt, immer näher, eure Komfortzone durchbricht?" Lektion Nummer Eins, natürlich in einem Rollenspiel umgesetzt! Sofort der erste Schock, alleine schon durch den massiven Antritt des Gegenübers gepaart mit lautem Anpöbeln. Das ist nichts, auf das wir, denen normales soziales Benehmen beigebracht wurde, gefasst sind und schon hat der Angreifer den ersten Vorteil. Alleine diese einfache Situation, da kommt jemand ohne Zögern auf mich zu und pöbelt mich lautstark an, setzte uns alle unter gewaltigen Stress. Kein sanfter Start, sofort sind wir mental in der Bedrohungssituation gefangen. Natürlich zeigte Enzo uns dann, wie hier am Besten zu reagieren, agieren ist. Das machte es aber nicht besser, denn nach wie vor bereitete uns das Rollenspiel mentalen Stress und nun kam auch noch die Notwendigkeit dazu, sich auf die Bewegungsabläufe zur Abwehr zu konzentrieren. Sofort merkten wir, dass wir noch einen weiten Weg vor uns haben. Irgendwie beschlich uns das Gefühl, gerade alles falsch zu machen, nichts zu verstehen und überfordert zu sein. Aber, nach dem zehnten Durchlauf und den ermunternden Worten des Trainers, funktionierte das ja tatsächlich. Der Angreifer wurde zurück gedrängt, Abstand hergestellt. Na also, wir können es ja vielleicht doch. Tatsächlich hatte der Trainer als Einziger nicht am Erfolg gezweifelt, ein gutes Zeichen. Schön auch, dass wir von Enzo zu Beginn einer Unterrichtsstunde immer ein kleines Handout erhalten, in welchem die wichtigsten Stichwörter aufgeführt sind. Für die erste Unterrichtseinheit waren das z.B. die Distanzen in der Selbstverteidigung, Angriffe und Verteidigungshaltung, jeweils mit erklärenden Stichworten.
So selbstbewusst einen die Erfolge am Ende der ersten Stunde machten, so wenig war zu Beginn der zweiten Stunde davon übrig. Wie war das noch einmal, wie war der Bewegungsablauf gewesen? Alles vergessen, Ernüchterung machte sich breit. Diese wich aber schnell, denn nach den ersten Drills war alles wieder da, wir waren schneller drin als in der Stunde zuvor und die Angriffe und Abwehrtechniken konnten immer schneller und stärker durchgeführt werden. Stets näher an eine mögliche Realität heran. Handflächenschläge, Hammerschläge, beides in Kombination. Das merkte auch Enzo und daher kamen nun Fassen und Klammern in weiteren Rollenspielen hinzu. In der Stunde darauf folgten dann Angriffe mit Schlaggegenständen, insbesondere einem Messer. In ersten Demonstrationen und Übungen machte Enzo uns schnell klar, dass ein solcher Angriff kaum ohne ernsthafte Verletzungen zu überstehen ist, selbst mit guter Abwehr. Gut zu wissen, um Leichtsinn oder übersteigerndem Selbstbewusstsein entgegenzuwirken sowie die gestellten YouTube Videos und Instagram Reels ad absurdum zu führen. Die Abwehrtechniken wurden komplexer und ungewohnter, galt es doch nun, dem Gegner auch bei der Abwehr des Messers möglichst wenig Möglichkeiten zu geben, die Klinge doch noch irgendwie, irgendwo am Körper, insbesondere an den abwehrenden Armen, zum Schneiden zu bringen.
Natürlich kann hier, in solch einem kleinen Erfahrungsbericht, nicht alles wiedergegeben werden, was uns im Kurs vermittelt wurde und noch wird. Würgegriffe, Stockangriffe, schnelles Aufstehen aus der Bodenlage sind da nur als Beispiele zu nennen, ebenso wie die Theorie über Achtsamkeit und Angriffserkennung. Was aber für alle sicherlich eine denkwürdige Unterrichtseinheit war, war die Thematik Befreiung aus der Bodenlage. Natürlich hatten sich alle in den vergangenen Unterrichtseinheiten immer besser kennen gelernt und somit fiel es auch von Stunde zu Stunde leichter in direktem Körperkontakt immer stärker und schneller anzugreifen sowie härter abzuwehren. Kaum Jemand, der ohne blaue Flecken davon kam. Eine gewisse Komfortzone musste dabei aber nie verlassen werden. Jetzt, in der Übung zur Befreiung aus der Bodenlage, war das anders. Das Szenario war klar: Ein Angreifer stürzt sich auf eine auf dem Boden liegende Person und will ihr das Schlimmste antun. Hier kamen sich sowohl die angreifende als auch die abwehrende Person zwangsweise körperlich sehr nah, was natürlich beide Trainierenden Überwindung kostete. Nach erstem Zögern zeigte sich aber schnell, was für eine sympathische Truppe sich in diesem Kurs gefunden hat. Denn nur mit gegenseitigem Vertrauen ist man bereit aus seiner Komfortzone heraus und dem gemeinsamen Erfolg näher zu kommen. Tatsächlich alle erklärten sich zur Übung bereit (Leicht skizziert: Angreifer entgegen jeder natürlichen Intention auf sich ziehen um dessen Kopf und Arme am eigenen Körper fixieren zu können, sich etwas nach oben drücken, ein Bein anziehen und mit dem Fuß das Knie des auf einem liegenden Angreifers wegdrücken, durch den gewonnen Freiraum den Angreifer unter sich rollen und sich selbst dadurch in Oberlage bringen) und von Mal zu Mal funktionierte es besser. Schwierig blieb es aber trotzdem.
Wir alle sind gespannt was noch kommen wird. Zwei Fragen beschäftigen uns besonders: Wann kommt das wie ein Damokles Schwert über uns hängende, von Enzo mehrmals angekündigte Zirkeltraining gepaart mit verschiedenen Angriffsszenarien und wo zum Teufel bringt er immer die riesigen Taschen unter, die er zu Beginn jeden Trainings in die Halle schleppt?
Bleibt festzuhalten, dass uns aufgrund der Komplexität des Themas bewusst geworden ist, dass nach Abhalten des Kurses ein anschließendes regelmäßiges Training sinnvoll wäre, um immer sicherer zu werden und das Gelernte nicht zu vergessen. Das hat auch der Verein erkannt und wird da sicherlich was Regelmäßiges anbieten.
(Ein anonymer Teilnehmer mit blauen Flecken)